Erich Fromm

Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle

(1966c)

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus der Erstveröffentlichung unter dem Titel The Psychological

Aspects of the Guarenteed Income in: R. Theobald (Hrsg.), The Guaranteed Income. Next Step in

Economic Evolution?, New York 1966, S. 175-184 (Doubleday & Co.); erste deutsche Übersetzung

erschien in: Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und

Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band V, S. 309-316. – Die Zahlen in {geschweiften Klammern}

geben die Seitenwechsel der Erstveröffentlichung wieder; die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die

Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder. - Copyright © 1966 und

1981 by Erich Fromm; Copyright © 2001 by The Literary Estate of Erich Fromm, Ursrainer Ring 24, D-

72076 Tuebingen, Germany. – Übersetzung aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel.

 

Dieser Beitrag befaßt sich ausschließlich mit den psychologischen Aspekten eines garantierten Einkommens, mit dessen Wert, seinen Risiken und mit den menschlichen Problemen, die dabei entstehen können. Für ein garantiertes Einkommen für alle spricht in erster Linie, daß die Freiheit des einzelnen auf diese Weise entschieden erweitert werden könnte. (Vgl. hierzu auch meine Ausführungen zu einem garantierten Existenzminimum in

The Sane Society,1955a, GA IV, S. 234-236.) Bisher war der Mensch während seiner gesamten Geschichte durch zwei Faktoren in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt: durch die Anwendung von Gewalt von seiten der Herrschenden (besonders dadurch, daß diese in der Lage waren, Abweichler umzubringen) und - was noch wesentlicher war - dadurch, daß

alle vom Hungertod bedroht waren, die nicht bereit waren, die ihnen auferlegten Bedingungen in bezug auf ihre Arbeit und ihre soziale Existenz zu akzeptieren. Jeder, der nicht bereit war, diese Bedingungen anzunehmen, sah sich der Gefahr, verhungern zu müssen, ausgesetzt, und zwar sogar dann, wenn keine anderen Gewaltmaßnahmen gegen ihn angewandt wurden. Das während des größten Teils der vergangenen und der gegenwärtigen Menschheitsgeschichte vorherrschende Prinzip lautet (im Kapitalismus genau wie in der Sowjetunion): „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“ Diese Drohung zwang den Menschen, nicht nur so zu handeln, wie von ihm verlangt wurde, sondern auch so zu denken und zu fühlen, daß er nicht einmal in Versuchung geriet, sich anders zu verhalten.

Daß die Geschichte auf dem Prinzip der Angst beruht, verhungern zu müssen, hat seine Ursache letzten Endes darin, daß der Mensch - von bestimmten primitiven Gesellschaften abgesehen - auf einem wirtschaftlich wie psychologisch niedrigen Existenzniveau lebte. Es

waren niemals ausreichend materielle Güter vorhanden, mit denen man die Bedürfnisse aller

hätte befriedigen können. Gewöhnlich war es so, daß eine kleine Führungsschicht alles an

sich nahm, was ihr Herz begehrte, und daß man den vielen, die sich nicht an einen

gedeckten Tisch setzen konnten, sagte, es sei Gottes Wille oder das Gesetz der Natur.

Hierzu ist allerdings zu bemerken, daß das {176} Ausschlaggebende dabei nicht die Habgier

der „Regierenden“, sondern das niedrige Niveau der materiellen Produktivität war. [310]

Ein garantiertes Einkommen, das im Zeitalter des wirtschaftlichen Überflusses möglich

wird, könnte zum erstenmal den Menschen von der Drohung des Hungertods befreien und

ihn auf diese Weise von wirtschaftlicher Bedrohung wahrhaft frei und unabhängig machen.

Niemand müßte sich mehr nur deshalb auf bestimmte Arbeitsbedingungen einlassen, weil er

sonst befürchten müßte, er würde verhungern. Begabte oder ehrgeizige Männer und Frauen

könnten die Ausbildung wechseln, um sich damit auf einen anderen Beruf vorzubereiten;

eine Frau könnte ihren Ehemann, ein Jugendlicher seine Familie verlassen. Die Menschen

hätten keine Angst mehr, wenn sie den Hunger nicht mehr zu befürchten brauchten. (Dies

trifft natürlich nur dann zu, wenn keine politischen Drohungen den Menschen am freien

Denken, Reden und Handeln hindern.)

Das garantierte Einkommen würde nicht nur aus dem Schlagwort „Freiheit“ eine Realität

machen, es würde auch ein tief in der religiösen und humanistischen Tradition des Westens

verwurzeltes Prinzip bestätigen, daß der Mensch unter allen Umständen das Recht hat zu

leben. Dieses Recht auf Leben, Nahrung und Unterkunft, auf medizinische Versorgung,

Bildung usw. ist ein dem Menschen angeborenes Recht, das unter keinen Umständen

eingeschränkt werden darf, nicht einmal im Hinblick darauf, ob der Betreffende für die

Gesellschaft „von Nutzen ist“.

Der Übergang von einer Psychologie des Mangels zu einer des Überflusses bedeutet

einen der wichtigsten Schritte in der menschlichen Entwicklung. Eine Psychologie des

Mangels erzeugt Angst, Neid und Egoismus (was man auf der ganzen Welt am intensivsten

in Bauernkulturen beobachten kann). Eine Psychologie des Überflusses erzeugt Initiative,

Glauben an das Leben und Solidarität. Tatsache ist jedoch, daß die meisten Menschen

psychologisch immer noch in den ökonomischen Bedingungen des Mangels befangen sind,

während die industrialisierte Welt im Begriff ist, in ein neues Zeitalter des ökonomischen

Überflusses einzutreten. Aber wegen dieser psychologischen „Phasenverschiebung“ sind

viele Menschen nicht einmal imstande, neue Ideen wie die eines garantierten Einkommens

zu begreifen, denn traditionelle Ideen werden gewöhnlich von Gefühlen bestimmt, die ihren

Ursprung in früheren Gesellschaftsformen haben.

Eine weitere Auswirkung des garantierten Einkommens in Verbindung mit einer

wesentlich {177} verkürzten Arbeitszeit für alle wäre sicher, daß die geistigen und religiösen

Probleme des menschlichen Daseins real und bestimmend würden. Bisher war der Mensch

mit seiner Arbeit zu sehr beschäftigt (oder er war nach der Arbeit zu müde), um sich ernsthaft mit den Problemen abzugeben: „Was ist der Sinn des Lebens?“, „Woran glaube ich?“, „Welche Werte vertrete ich?“, „Wer bin ich?“ usw. Wenn er nicht mehr ausschließlich von seiner Arbeit in Anspruch genommen ist, wird es ihm entweder freistehen, sich ernsthaft mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, oder er wird aus unmittelbarer oder kompensierter Langeweile halb verrückt werden. Prinzipiell kann der wirtschaftliche Überfluß die Befreiung von der Angst vor dem Hungertod, den Übergang von einer vormenschlichen zu einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft kennzeichnen. [311]

Um ein ausgeglichenes Bild zu bieten, sollte man aber auch einige Einwände gegen diese Vorstellung von einem garantierten Einkommen für alle und kritische Fragen nicht

außer acht lassen. Die nächstliegende Frage lautet, ob ein garantiertes Einkommen nicht die Arbeitsmotivation beeinträchtigen würde.

Ganz abgesehen davon, daß bereits heute für einen ständig wachsenden Teil unserer Bevölkerung überhaupt keine Arbeit vorhanden ist und daß daher die Frage der Arbeitsmotivation für diese Menschen nicht relevant ist, sollte man diesen Einwand trotzdem

ernst nehmen. Meines Erachtens kann man zeigen, daß der materielle Anreiz keineswegs

das einzige Motiv ist, um zu arbeiten und sich anzustrengen. Erstens gibt es auch noch

andere Motive - wie z. B. Stolz, soziale Anerkennung, Freude an der Arbeit selbst usw. An

Beispielen hierfür fehlt es nicht. Am deutlichsten sieht man es an der Arbeit des

Wissenschaftlers, des Künstlers usw., deren hervorragende Leistungen nicht vom

finanziellen Gewinn, sondern von verschiedenen Faktoren motiviert sind: vor allem vom

Interesse an seiner Arbeit, vom Stolz auf die eigene Leistung und dem Streben nach

Anerkennung. Aber so augenfällig diese Beispiele auch sein mögen, so sind sie doch nicht

völlig überzeugend, weil man sagen könnte, diese Ausnahmemenschen seien zu solchen

außergewöhnlichen Anstrengungen eben deshalb fähig, weil sie so außergewöhnlich begabt

seien, und sie seien deshalb keine typischen Beispiele für die Reaktion des

Durchschnittsmenschen. Mir scheint dieser Einwand jedoch nicht stichhaltig, wenn wir uns

die Antriebe zur Aktivität bei Menschen näher ansehen, welche diese Eigenschaften des

außergewöhnlichen, kreativen Menschen nicht besitzen. Welche Anstrengungen werden im

Bereich des Sports und vieler Hobbys aufgeboten, wo keinerlei materielle Anreize gegeben

sind. In welchem Ausmaß {178} das Interesse am Arbeitsprozeß selbst ein Antrieb zur Arbeit

sein kann, hat zuerst Professor Mayo in seiner klassischen Untersuchung in den Chicagoer

Hawthorne-Werken der „Western Electric Company“ nachgewiesen (E. Mayo, 1933). Allein

die Tatsache, daß man ungelernte Arbeiterinnen bei dem Experiment, das ihre

Arbeitsproduktivität betraf, selbst heranzog und sie durch ihre Beteiligung zu interessierten,

aktiven Teilnehmern wurden, führte zu einer höheren Produktivität, ja sogar zu einem

besseren Gesundheitszustand.

Das Problem wird noch deutlicher, wenn wir uns ältere Gesellschaftsformen einmal genauer ansehen. Die Tüchtigkeit und Unbestechlichkeit der traditionellen preußischen Beamten war berühmt, obwohl sie sehr schlecht bezahlt wurden; in diesem Fall waren Begriffe wie Ehre, Treue und Pflichterfüllung die entscheidenden Antriebe zu guten Arbeitsleistungen. Betrachten wir vorindustrielle Gesellschaften (wie zum Beispiel die mittelalterliche europäische Gesellschaft oder die halbfeudalen Gesellschaften zu Anfang unseres Jahrhunderts in Lateinamerika), so taucht noch ein anderer Faktor auf. In diesen Gesellschaften wollte beispielsweise ein Zimmermann nur so viel verdienen, daß er sich das leisten konnte, was zu seinem traditionellen Lebensstandard gehörte. Er hätte sich geweigert, mehr zu arbeiten und zu verdienen, als er brauchte.

Ein zweites Argument dafür, daß der Mensch nicht nur aus materiellem Anreiz arbeiten

und sich anstrengen will, ergibt sich aus der Tatsache, daß der Mensch unter den Folgen

von Untätigkeit leidet und eben gerade nicht von Natur aus träge ist. Sicher [312] würden

viele Leute gerne für ein oder zwei Monate nicht arbeiten. Die allermeisten würden aber

dringend darum bitten, arbeiten zu dürfen, selbst wenn sie nichts dafür bezahlt bekämen.

Erkenntnisse über die kindliche Entwicklung und über Geisteskrankheiten liefern eine Fülle

Daten hierfür. Es sollte unbedingt eine systematische Untersuchung gemacht werden, bei

der alle verfügbaren Daten unter dem Aspekt „Trägheit als Krankheit“ analysiert würden.

Wenn nun Geld nicht der Hauptanreiz ist, müßte doch die Arbeit in ihren technischen

oder gesellschaftlichen Aspekten so attraktiv und interessant sein, daß man sie eher in Kauf

nehmen würde als Untätigkeit. Der moderne, entfremdete Mensch ist (meist {179} unbewußt)

apathisch und sehnt sich daher mehr nach Nichtstun als nach Betätigung. Diese Sehnsucht

ist jedoch ein Symptom unserer „Pathologie der Normalität“. Vermutlich würde der

Mißbrauch des garantierten Einkommens nach kurzer Zeit wieder verschwinden, genauso

wie auch die Leute, wenn sie für Süßigkeiten nichts zu bezahlen brauchten, sich nach ein

paar Wochen nicht mehr daran überfressen würden.

Ein weiterer Einwand lautet: Wird es den Menschen wirklich freier machen, wenn er

keine Angst vor dem Verhungern mehr zu haben braucht, wenn man bedenkt, daß

Menschen mit einem guten Einkommen vermutlich genausoviel Angst haben, ihre Stelle zu

verlieren, die ihnen im Jahr 15 000 Dollar einbringt, wie die, welche hungern müßten, wenn

sie ihren Job verlieren würden. Wenn dieser Eindruck richtig ist, würde das garantierte

Einkommen die Freiheit der Mehrheit, jedoch nicht die Freiheit der oberen Schichten

vergrößern.

Um diesen Einwand ganz zu begreifen, müssen wir bedenken, von welchem Geist

unsere heutige Industriegesellschaft erfüllt ist. Der Mensch hat sich in einen homo

consumens verwandelt. Er ist unersättlich und passiv und versucht seine innere Leere mit

einem ständigen, stets wachsenden Konsum zu kompensieren. Es gibt viele klinische

Beispiele für diesen Mechanismus, bei dem übermäßiges Essen, Kaufen und Trinken eine

Reaktion auf Depression und Angst ist. Konsumiert werden Zigaretten, Schnaps, Sex, Filme,

Reisen, Bildungsgüter wie Bücher, Vorlesungen, Kunst. Der Mensch macht den Eindruck, als

sei er aktiv und höchst angeregt, in seinem tiefsten Innern ist er jedoch erfüllt von Angst, ist

er einsam, deprimiert und gelangweilt. (Langeweile kann als jene Art chronischer Depression

begriffen werden, die man erfolgreich mit Konsum kompensieren kann.) Die

Industriegesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts hat diesen neuen psychologischen Typ,

den homo consumens, in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen geschaffen, d. h. um des

notwendigen Massenkonsums willen, der durch die Werbung stimuliert und manipuliert wird.

Aber der einmal geschaffene Charaktertyp beeinflußt seinerseits wieder die Wirtschaft und

läßt das Prinzip der ständig zunehmenden Befriedigung vernünftig und realistisch

erscheinen. Das Problem wird dadurch noch komplizierter, daß mindestens zwanzig Prozent

der amerikanischen Bevölkerung in unzureichenden Verhältnissen leben, daß einige Länder

Europas, vor allem die sozialistischen, noch keinen befriedigenden Lebensstandard erreicht

haben und daß der größte Teil der Menschheit in Lateinamerika, Afrika und Asien kaum über

dem Hungerniveau existiert. Jedes Argument, das sich für einen geringeren Konsum

einsetzt, wird mit dem Gegenargument [313] beantwortet, daß in den meisten Teilen der

Welt der Konsum noch gesteigert werden müsse. Dies ist richtig; doch besteht die Gefahr,

daß selbst in den heute noch armen Ländern das Ideal des maximalen Konsums

richtungweisend für alle Anstrengungen wird, daß es den Geist der Menschen formen und

daher auch weiterhin wirksam sein wird, wenn das optimale Konsumniveau bereits erreicht

ist. […]

Mit den ökonomisch orientierten Forschungsarbeiten auf dem Gebiet des garantierten

Einkommens für alle müssen auch noch andere Forschungen betrieben werden:

psychologische, philosophische, religiöse und erziehungswissenschaftliche. Der große

Schritt zu einem garantierten Einkommen wird meiner Meinung nach nur Erfolg haben, wenn

Veränderungen in anderen Bereichen mit ihm Hand in Hand gehen. Wir dürfen nicht

vergessen, daß das garantierte Einkommen nur zustande kommen kann, wenn wir aufhören,

zehn Prozent unseres Gesamteinkommens für die wirtschaftlich nutzlose und gefährliche

Rüstung auszugeben, wenn wir der Ausbreitung sinnloser Gewalttätigkeiten dadurch Einhalt

gebieten, daß wir die unterentwickelten Länder systematisch unterstützen, und wenn wir

Mittel und Wege finden, der Bevölkerungsexplosion Einhalt zu gebieten. Ohne diese

Wandlungen wird kein Plan für die Zukunft gelingen, weil es keine Zukunft geben wird.

Literatur:

Fromm, E., 1955a: The Sane Society, New York 1955 (Rinehart and Winston, Inc.); Der

moderne Mensch und seine Zukunft. Eine sozialpsychologische Untersuchung,

Frankfurt/Köln 1960 (Europäische Verlagsanstalt); Wege aus einer kranken

Gesellschaft, GA IV.

Mayo, E., 1933: The Human Problems of an Industrial Civilization, New York 1933 (The

Macmillan Co.). ,

Copyright © 1966 und 1981 by Erich Fromm

Copyright © 2001 by The Literary Estate of Erich Fromm

Ursrainer Ring 24, D-72076 Tuebingen, Germany

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel.