Erziehung ohne Erziehung?                                                                                           5. 8. 01

 "Pesta", eine Schule ohne Klassen, ohne Unterricht, ohne Noten

Nach einem Vortrag von Mauricio und Rebeca Wild auf Einladung der freien Schule KA, Juni 01

Über die Arbeit mit Tauschringen lernte ich Rebeca und Mauricio Wild kennen, die seit 24 Jahren in Ecuador eine freie Schule  ("Pesta", nach Pestalozzi genannt) betreiben. Die Faszination ihres pädagogischen Konzepts wächst für mich mit jedem Vortrag, den ich von ihnen hörte und jedem Buch, das ich von Rebeca lese.
Schon die Urzelle brachte die enorme Leistung zustande, sich vom umgebenden Chaos durch eine halbdurchlässige Membran abzugrenzen und so die Lebensprozesse im Inneren zu ermöglichen. Dies gelingt um so besser, je geeigneter die Umgebung für diese Zelle ist..  Je besser der Boden für die vom Bauern ausgebrachten Samen geeignet ist, um so besser werden die Samen das in ihnen ruhende Potential für eine voll  ausgebildete Pflanze entwickeln können.

Bildlich gesprochen, fühlen sich die Wilds als Bauern, welche versuchen, die optimalen Bedingungen für die Samen zu schaffen, aber den Samen nicht vorzuschreiben, wann und wie sie sich entwickeln müßten. Die Samen "wissen", daß sie Weizen und nicht Roggen werden wollen und wann es Zeit ist, Wurzeln auszubilden und wann Halme, Blätter und Früchte "dran" sind. Die Kinder sind eben so klug wie die Samen. Auch das menschliche Potential kann sich nur in geeigneter Umgebung voll entfalten  Solche Umgebungen nennen die Wilds "vorbereitete Umgebung". Dies ist die Basis-Idee des Pesta - Konzepts. Am Anfang kamen sie oft "ins Schleudern", weil die Wege zur Umsetzung dieses Konzepts im Detail erst in mühsamer , geduldiger Arbeit gefunden werden mußten, wobei sie natürlich auch in Sackgassen gerieten. Die Widerstände von außen wurden geringer, als sie sich auf neurologische Studien stützten.

Im "Pesta" gibt es im Prinzip 3 verschiedene "Umgebungen": Kindergarten, Primar- und Sekundarstufe. 90% des Materials in der Sekundarstufe sind unstrukturiert, in den restlichen 10% ist der gesamte vom Staat geforderte Stoff enthalten. Das Hauptbedürfnis der Jugendlichen in dieser Stufe ist, miteinander reden  Aber wenn man sie läßt, beginnen sie irgendwann mit Aktivitäten. Ein Grundimpuls ist: nicht Wissen vermitteln, sondern verstehen helfen. Das Wissen, welches das herkömmliche Erziehungssystem den Menschen vermittelt, hat es ihnen ermöglicht, die Welt so zuzurichten, wie wir es z. Z. sehen. Wer versteht, zerstört nicht. Im herkömmlichen Erziehungssystem lernen wir meist, "wie es geht", z. B. wie dividiert man einen Bruch durch einen Bruch? Antwort: man multipliziert mit dem Kehrwert. Auf die Frage warum? kommt selten eine Antwort.

Eltern können auf eigenen Wunsch jederzeit in der Schule hospitieren. Nur 20% der Eltern zahlen das volle Schulgeld. Ca 20 Stunden in der Woche verwenden die Wilds für Elternarbeit. Eine Gruppe, zu der auch Zwölfjährige gehörten, hat Anfang 2000 eine viermonatige Fahrradreise über 6000 km selbst vorbereitet und organisiert. Nur 2 mal mußte im Hotel übernachtet werden. Frage an Mauricio: Welche Ziele definieren Sie für Ihre Schule? Antwort: Wir definieren keine Ziele für andere Menschen. Erst seit 89 bleiben fast alle Kinder bis zum Ende der Sekundarstufe. Ab 10 Jahren können die Kinder bis zu 3 Tagen im Monat irgendwo arbeiten (meist in befreundeten Betrieben.)

Inzwischen haben einige Schüler des Pesta mit 18 Jahren nach einem 2 monatigem Kurs vor staatlichen Prüfungskommissionen das Abitur gemacht. Zur Zeit ist als Fortsetzung der Sekundarstufe ein "Autodidaktisches Netzwerk", eine Art Universität im Entstehen. Kinder sind ab etwa 3 Jahren weitgehend in der Lage, selbst zu entscheiden. Wenn ihnen das nicht ermöglicht wird, entstehen wahrscheinlich bestimmte Strukturen im Gehirn nicht. Wenn die Freude an der selbst gewählten Tätigkeit nicht ermöglicht wird, sucht das Kind als Ersatz nach Lob und strebt  nach guten Noten."Wohl fühlen ist besser als gelobt werden" Die Kinder werden nicht gelobt, aber auch nicht getadelt, weil das eine Beurteilung voraussetzen würde, etwas, das allerdings auch nach Mauricios Aussagen schwer konsequent durchzuhalten ist.  Grenzen sind erforderlich, aber es ist ein Unterschied, ob die Kinder diese als Mittel zur Disziplinierung oder als sinnvolle Organisation des Zusammenlebens erfahren. Unsere Sprache ist oft unbewußt direktiv.

Eine große Zahl von ähnlichen Schulprojekten ist schon gescheitert, nach Meinung der bestehenden Schulen aus Disziplingründen. Nach Aussagen von Mauricio hat der Pesta auch bei jetzt 190 Kindern und Jugendlichen zwischen 3 und 18 Jahren keinerlei Disziplinprobleme. Allerdings ist es sehr schwierig, innerhalb des herkömmlichen Schulsystems lediglich Teile des Konzepts zu verwirklichen. Die Wilds haben 5 Jahre außerhalb gearbeitet, um die Schule zu finanzieren. In einer der ärmsten Gegenden haben sich inzwischen 9 Menschen, die sich über den Tauschring kennen gelernt haben und anfingen, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren, eine Schule mit 9 Kindern nach Pesta - Vorbild gegründet.

Literatur
Rebeca Wild, Lebensqualität für Kinder und andere Menschen
Rebeca Wild, Erziehung zum Sein