Mensch und Technik                                                                                                                                 15.1. 08

Erfahrungen mit einem Pulsmesser

Die Ausgangssituation

Vor einigen Jahren kaufte ich für meine Frau einen Pulsmesser (Polar) zur Kontrolle beim Jogging. Irgendwann benutzte ich das Ding bei meiner täglichen Runde ums Dorf. Diese hatte ich mir zu Zeiten angewöhnt, als ich noch mehr oder weniger professionell Liegeräder baute. Da war oft etwas auszuprobieren und nach und nach entwickelte sich ein fester Rhythmus:
vormittags Arbeiten in der Werkstatt, nach dem Essen "Probefahrt" und danach PC  -Arbeit. Mir fiel dann auch auf, daß ich bei diesen entspannten Fahrten oft die besten Ideen hatte und für Probleme, die ich zunächst nicht lösen konnte, ohne Druck auf einmal einen Ausweg fand. Diese Runde habe ich bis heute beibehalten. Sie umfaßt 11 km mit Steigungen bis 13% (wir wohnen am Rande des Schwarzwaldes).

Die Überraschung

Bei der ersten Fahrt mit dem "Polar" war ich ziemlich schockiert, als mein Puls an der ersten Steigung rutzdiputz auf 140 lag und überhaupt meist höher, als ich das rein gefühlsmäßig eingeschätzt hätte. Nun bin ich wahrhaftig kein "Raser", schon von der Kondition her und wollte auch nicht "trainieren", deshalb machten mich die gemessenen Werte doch nachdenklich. Nach einigen Wochen mit und ohne Polar, wurde mir allmählich klar, daß ich die meiste Zeit aus mir zunächst unerfindlichen Gründen schneller fuhr, als ich eigentlich wollte, und das wohl seit einem halben Jahrhundert! Einer der Gründe liegt wohl in der Prägung auf Geschwindigkeit, der sich in unserer Gesellschaft wohl kaum jemand entziehen kann. Beim HPV habe ich mich mal mit der folgenden Idee unbeliebt gemacht. Warum hat Geschwindigkeit für Männer eine so ungeheure Bedeutung? Über Hunderttausende von Jahren streifte der Mann auf Nahrungssuche durch die Steppen und alle Beutetiere und alle Feinde waren schneller als er. Das führte geradezu zwanghaft zu dem Wunsch, selbst auch schneller zu sein und dieser Wunsch ist auch heute noch sozusagen als genereller genetischer Defekt erhalten und beschert uns durch die nach wie vor existierende männliche Dominanz eine Zivilisation, in der Geschwindigkeit geradezu zum Selbstzweck geworden ist. Ein diesbezülicher Artikel von mir hat mal zum Austritt von eine Dutzend Mitgliedern aus dem HPV geführt.

Verallgemeinerung

Als in der Polar - "Armbanduhr" ein Batteriewechsel fällig war, erzählte ich dem Händler beiläufig diese Beobachtung. Zu meiner Überraschung fand er sie überhaupt nicht bemerkenswert, sondern er meinte, nach den Untersuchungen seiner Firma "übernehmen "sich 80% der Alltagsradler regelmäßig, vor allem am Berg. Für mich sieht es so aus, als ob der Mensch ein deutlicheres Gespür für seine Geschwindigkeit, als für den Grad seiner Anstrengung zu haben scheint. Da nach meiner Erfahrung praktisch jeder Radler unbewußt die Erfahrung gemacht hat, daß langsamere Strecken stärker auf den "Schnitt" drücken, gibt praktisch jeder am Berg eben mehr Druck auf die Pedale und - tut des Guten leicht zu viel.

Eine Tour mit Pulsmesser

Etwa zwei Jahre später habe ich bei einer Tour am Oberrhein entlang wieder mal den Polar benutzt und gemerkt, .daß selbst bei Kenntnis der oben dargestellten Zusammenhänge diese doch schwierig umzusetzen sind. Ohne Polar hatte ich zunächst das Gefühl, die angenehme Geschwindigkeit für die geplante 100 km -Tour sei 23 km/h. (Kurzlieger mit oben liegendem Lenker, Lehne auf ca 50 Grad Neigung gestellt, kein Gepäck, ganz schwacher Gegenwind). Nach ca einer Stunde legte ich dann den Polar an und merkte, daß der Puls zwischen 100 und 104 schwankte und bei den wenigen kurzen Anstiegen, z, B, Brückenauffahrten auf 115 ging, selbst für meine 70 Jahre keine Gefahr, aber immerhin. Die wunderbare Natur in den Rheinauen und das Traumwetter hatte mich wohl sehr euphorisch gestimmt. Mir fiel ein, irgendwo hatte ich mal geschrieben, der Luftwiderstand bei 30 km/h (für den Alltagsfahrer viel Holz) beträgt über den Daumen gepeilt 1,3 kg, der Steigungswiderstand an 2% Steigung, die man kaum sieht, aber schon 1,8 kg. Da ich es  ja wirklich gemütlich machen wollte, beschloß ich, mit 95 Puls zu radeln, und siehe da, es stellte sich eine Geschwindigkeit von immerhin 20 km/ ein.

Vielleicht beobachten Sie sich daraufhin mal aufmerksam.

Was sagt die Medizin?

Inzwischen scheint es allgemein anerkannte medizinische Erkenntnis zu sein, daß übertriebene Anstrengung nicht nur schädlich ist, sondern auch weniger Trainingseffekt (oder Gewichtsverlust) bringt, als moderate Anstrengung über längere Zeiten. Die freie Kapazität des Bewußtseins (oder der Seele) zum Genießen der Landschaft steigt mit verminderter Anstrengung allemal

Eine Bemerkung zum sog. "Schnitt"

Jeder Mensch, der auf dem Fahrrad von A nach B kommen möchte, hat unbewußt auch eine Vorstellung darüber, welche Zeit dafür angemessen ist Wenn jetzt ein unerwarteter Berg auftaucht, weiß er aus Erfahrung daß dies die Fahrzeit erheblich verlängert, also strengt er sich mehr an als in der Ebene, oder anders gesagt, er versucht seinen "Schnitt", d. h. die über alles gemessene Durchschnittsgeschwindigkeit nicht all zu sehr absinken zu lassen. Hier zur Verdeutlichung vielleicht ein etwas extremes Beispiel, wie dieser "Schnitt" zustande kommen kann. Es geht eine 10 km lange Steigung hinauf, die ein Radfahrer mit gleichmäßig 10 km/h befährt. Anschließend geht es auf der anderen Seite gleichmäßig 10 km hinab, dabei erreicht der Mensch 45 km/h. Der insgesamt erreichte Schnitt liegt nun nicht, wie man zunächst vermuten könnte in der Mitte zwischen 10 und 45 also bei 27,5, sondern bei 16,4 km/h. (Für die ersten 10 km braucht der Fahrer eine Stunde, für die Abfahrt rund 13 Minuten. Für 20 km also insgesamt 1h13min, und das ergibt eben den genannten Schnitt

Radfahren zu zweit, oder : warum Tandems?

Kennen Sie auch die Pärchen, die einem vor allem an Bergen immer wieder begegnen, er -  50 m voraus, frustriert, daß sie nicht mitkommt, sie      50 m zurück, frustriert, daß er so schnell fährt und nicht auf sie wartet.
Schauen wir uns die beiden doch etwas genauer an.
Er ist als Mann schon mal von Natur aus mit mehr physischer Kraft ausgestattet, wegen stärkerer Fixierung auf die sogenannte Sportlichkeit mehr durchtrainiert und wegen mehr Ehrgeiz auch bereit, näher an seine Leistungsgrenze heranzugehen; in der Ebene fährt er normal etwa 30 km/h und braucht dafür 130 Watt
Sie fährt gern Rad, liebt die Natur und hat wenig sportliche Ambitionen, fährt in der Ebene etwa 22 km/h und braucht dafür ca 90 Watt.
Bei gemeinsamen Ausfahrten haben sie sich auf etwa 26 km/h eingependelt und sind beide einigermaßen zufrieden damit.
Wenn er allein unterwegs ist und ein Berg mit 5% Steigung kommt, passiert folgendes: Aus intuitivem Wissen, daß - wie oben dargestellt - langsamer gefahrene Strecken einen größeren Einfluß auf den "Schnitt" haben (und Schnitt ist für ihn etwas sehr wichtiges) und weil ein Berg eine besonders gute Gelegenheit ist, andere "abzuhängen", stockt er seine Leistung auf 300 Watt auf und kommt damit mit seinen 15 + 70 kg Gesamtgewicht auf 17 km/h.
Sie sieht einen Berg nicht als sportliche Herausforderung sonders als interessantes geographisches Phänomen an, aus der Ahnung des oben genannten Zusammenhangs heraus legt sie aber doch auf 100 Watt zu und kommt mit ihren 16+60 kg auf 12 km/h.
Wenn die beiden betrachteten Menschen nun gemeinsam eine Ausfahrt über einen Berg machen, wird sie wohl ihm zuliebe auf 120 Watt hochgehen und damit 14 km/h erreichen, da er aber eigentlich 17 km/h fahren möchte .......... siehe oben.
Jetzt wird sicher der eine oder andere sagen, bei uns ist das alles ganz anders. Wahrscheinlich stimmt das auch, aber eine gewisse Tendenz glaube ich mit der obigen Schilderung doch getroffen zu haben.
Vielleicht könnte man überhaupt einmal darüber nachdenken, welche Rolle Geschwindigkeit für einem selbst bedeutet.

Warum sind Tandems am Berg langsam?

Schon seit vielen Jahren fiel mir auf, daß in allen schlauen Büchern und Diskussionen immer wieder gesagt wird, Tandems sind am Berg langsamer als Einzelfahrer. Eine Begründung dafür habe ich nie gefunden und auch Tandemfahrer, die ich befragte, waren sich in der Tatsache selbst einig, konnten aber keinen Grund angeben. Einen ersten Hinweis erhielt ich von Hanno Hirsch. Er erzählte mir, daß seine Freundin bei der ersten Ausfahrt auf Einzelrädern nach längeren gemeinsamen Tandemfahrten bemerkte, "das ist aber anstrengend."

Schon immer mal wieder war mir auf Fahrrad, Motorrad, oder Auto aufgefallen, daß es offenbar sehr schwierig ist, die Steigung einer Straße vom optischen Eindruck her einzuschätzen. Man läßt sich sehr oft von allem möglichen täuschen. Wenn es z. B. ziemlich steil bergauf geht, in einem Kilometer Entfernung dann plötzlich deutlich weniger steil, dann hat man leicht den optischen Eindruck, die Straße ab diesem Knick sei eben oder falle gar leicht. Ich bin inzwischen ziemlich sicher, der Radfahrer "mißt" eine Steigung (natürlich unbewußt) einfach am Geschwindigkeitsabfall und erhöht entsprechend seine Leistung. Das bedeutet aber, für die Stokerin fällt durch den hohen Einsatz des Kapitäns die Geschwindigkeit weniger ab, als es für sie bei Alleinfahrt der Fall wäre. Und so wird sie (unbewußt) ihren Anstrengungsgrad entsprechend weniger stark erhöhen. Das Ergebnis: das Tandem ist am Berg langsamer, als es die beiden bei gemeinsamer Fahrt auf Einzelrädern wären. Der Grund ist also schlicht und ergreifend der, daß sich die Stokerin nur so stark anstrengt, wie sie es für sinnvoll hält und nicht so stark, wie sie sich ihm gegenüber bei Einzelfahrt verpflichtet fühlen würde. Das Tandem bietet also die Möglichkeit. daß die Frau einen direkten Nutzen von der naturgegebenen  größeren Körperkraft des Mannes hat. Frauen sind nach meinen Erfahrungen weit eher als Männer bereit, das Hobby des Partners zu übernehmen (und auch Freude daran zu haben), machen wir es ihnen wenigstens nicht unnötig schwer und bauen oder kaufen Tandems!!
Außerdem ist es vielleicht des Nachdenkens wert, WARUM Männer vor allem am Berg sich so extrem anstrengen müssen.

Noch ein Nachtrag

Im diesem Sommer waren wir viel mit unserem Tandem unterwegs und da kam es häufig vor, daß meine Frau nicht mittrat, sei es, daß sie gerade nach etwas schaute, oder sie hatte gerade einen Konditionseinbruch oder wir fuhren eine enge Kurve. Seitdem weiß ich, warum es so wenig Tandems gibt, denn bei solchen Gelegenheiten gab es fast regelmäßig Bemerkungen von gerade zuschauenden Männern, die mich darauf aufmerksam machten. Das interpretieren wir so, daß Männer große Angst haben, ihre Partnerin könnte auf dem Tandem zu wenig "schaffe", wie man hier sagt, also zu wenig treten!